an dieser Stelle findet Ihr Auszüge aus meinem Buchprojekt mit dem schönen Namen "Wiss'de noch... Geschichten und Episoden aus dem Erfurter DDR-Alltag".
Das Buch erscheint - hoffentlich - im September im Herkules Verlag Kassel und wird in handverlesenen Erfurter Buchhandlungen oder direkt beim Verlag erhältlich sein.
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn sich zwei alte Erfurter auf der Straße begegnen,
dann lautet der übliche Gruß „Wie ‘en?!“ Und wenn die Unterhaltung länger
andauert, dann fällt früher oder später das „wiss´de noch? …“. Und das
Gegenüber „wiss“ nicht nur das, sondern auch noch vieles andere „von früher“.
Und genau darum soll es in diesem Buch gehen: um
Erinnerungen – von A wie Anger bis Z wie Zoopark. Lassen Sie uns gemeinsam
einen Blick darauf werfen, wie es in Erfurt vor Jahrzehnten ausgesehen hat und
wie es sich hier lebte. Lassen Sie uns in den Erinnerungen kramen, die jeder
von Ihnen auf die eine oder andere Weise in sich trägt. Lassen Sie uns an Orte
zurückkehren, die es heute (so) nicht mehr gibt.
Dieses Buch will also keine Stadtchronik sein, davon gibt
es genügend. Es will zur Erinnerung anregen an das, was man in Bayern
vielleicht „die guade oalde Zeit“ nennen würde. So gut war sie für manch einen
nicht, deshalb geht es hier auch nicht um falsch verstandene Ostalgie. Es geht
darum, was viele Erfurter an Erinnerungen mit ihrer Stadt verbinden, was sie
gemeinsam aus dieser Stadt gemacht und in ihr erlebt haben.
Wenn der heutige Erfurter Oberbürgermeister beschreibt,
dass seine ersten iga-Erlebnisse zwar feucht aber nicht fröhlich waren, wenn
Sie lesen, warum die Stasi bei der Staatsjagd ihre kalten Füße nicht loswurde
oder wenn von „der „Flohkiste“ oder dem heimlichen Erfurter „Wim-Thoelke-Platz“
die Rede ist, dann sagen vielleicht auch Sie: „Wiss´de noch …?!“
Viel Spaß dabei!
Bemerkenswert waren auch die Ausdrücke, mit der die
Erfurter Kinder und Jugendliche bedachten. Als es noch keine Kids und Teenies
gab, da nannte man die „lieben Kleinen“ noch „Stöppel“ / „Stöpfel“ – wortgleich
mit dem Stöpfel oder Stöpsel, mit dem man ein Becken oder eine Flasche
verschloss.
Eher in die Kategorie der milden Schimpfworte gehört der
„Flöhhahn“. Damit bezeichnen die Erfurter einen körperlich wie intellektuell
leichtgewichtigen Menschen, den man nicht so ernst nehmen sollte, wie er sich
wichtigmacht. Die nächst höheren Steigerungsformen in den Schimpfworten waren
der „Dummfotz“ gefolgt vom „Leckarsch“.
...
Dreck reinigt den
Magen
Beginnen wir unsere Erinnerungstour nun also in der Zeit,
als wir noch „Stöpfel“ waren, eine Zeit, die sicher die Allermeisten als schön
und unbeschwert in Erinnerung haben. Es war die Zeit, als das Wort
Kindersicherung noch nicht erfunden war und die Devise galt „Dreck reinigt den
Magen“. Das Kinderleben spielte sich, wann immer das Wetter es erlaubte, auf
Höfen, Wiesen und Straßen ab. Stöcke waren ein universales Spielgerät und
dienten uns wahlweise als Säbel (wenn wir Musketiere waren), Gewehr (als Cowboys
und Indianer) oder Torpfosten beim Fußball.
In der Sandkiste wurden Karrieren als Bauarbeiter
begründet und auf dem (vermutlich mit bleihaltiger Farbe gestrichenen)
Klettergerüst aus zusammengeschweißten Stahlrohren startete man im Flugzeug
oder Raumschiff in neue Abenteuer. Die Straßenfußballer maßen ihre Kräfte beim
„Kellerloch“ – in den seltensten Fällen aber mit einem Ball. Stattdessen wurde
gegen Lumpenbündel oder ausgemusterte Tennisbälle gekickt.
Und um noch einmal auf typische Erfurter Begriffe zu
sprechen zu kommen: Das beliebte Kinderspiel „Räuber und Gendarm“ hieß bei den
Erfurter Jungs „Räuber und Schanndarr“, wobei die Betonung auf der ersten Silbe
zu liegen hat.
Mädchen spielten „Hüppekästchen“ oder Gummitwist (auch
„Mode“ genannt). Und natürlich mit Puppen. Südlich von Erfurt gab es ja einige
Puppenproduzenten. Selbst eine „Ost-Barbi“ fand sich in vielen Kinderzimmern.
Offiziell hieß sie Modepuppe „Steffi“. Steffis Malimo-Kleidung entstand
vielfach in Handarbeit an Muttis oder Omas Nähmaschine. Ebenso wie manches
„Modell“, das bei den „Modenschauen“ im trauten Freundinnenkreis vorgezeigt
wurde.
...
In der „Ham‘ Sie-Welt“
Der Einkaufs-Alltag sah jedoch um einiges anders aus.
Sinnbildlich dafür steht ein ganz besonderes Utensil, ohne das kein Erfurter
das Haus verließ: der obligatorische Dederon-Beutel – Erfurter sprechen vom
„Biddl“. Wenn nachmittags um vier der Hammer fiel und die Schreibtischschublade
abgeschlossen wurde, dann gingen die Erfurter auf dem Weg nach Hause noch in
dieses oder jenes Geschäft. Einfach mal gucken, ob’s „was gibt“. Zum einen
waren die Großeinkäufe, die für eine ganze Woche reichen mussten, eher die
Ausnahme, zum anderen konnte man ja wirklich mal Glück haben und eine Rarität
ergattern.
Bis weit in die 60er-Jahre hinein dominierten in Erfurt noch
die vielen kleinen Läden für die Waren des täglichen Bedarfs. Der Fleischer und
der Bäcker an der Ecke waren in aller Regel in privater Hand beziehungsweise in
der PGH organisiert. Kleine Lebensmittelläden, von denen es fast in jedem Block
einen gab, wurden überwiegend von HO oder Konsumgenossenschaft betrieben. Eines
war allen gleich: Jeden Mittag zwischen 13 und 15 Uhr war der Laden zu –
Mittagspause. Aber nur für die Verkäufer. Wer frisches Brot, knusprige Brötchen
oder auch nur einigermaßen Auswahl beim Kuchen haben wollte, sollte schon
deutlich vor drei Uhr vor der Ladentür warten. Deshalb spricht man wohl auch
davon, dass man etwas „erstehen“ konnte. War man dann endlich an der Reihe,
begann das Verkaufsgespräch mit den Worten „Ham‘ Sie ...?“ . Geriet man an eine
gut gelaunte Verkäuferin, bekam man eine beredte Antwort „Sogar so viel, dass
wir es verkaufen können.“
...
Bilanzen und
Bezugsscheine
An einen Sonderfall des Warenverkehrs zu DDR-Zeiten soll
hier noch erinnert werden, weil er mit zwei Begriffen zusammenhängt, die
typisch für die Zeit waren und die vielen Erfurtern sicher noch heute im
Gedächtnis sind. Die Begriffe heißen „Bilanzen“ und „Bezugsschein“.
Untersuchen wir dies anhand eines praktischen Beispiels,
das sich so oder so ähnlich dutzende Male in unserer Stadt ereignet hat. Nehmen
wir also an, dass ein junger aufstrebender Ingenieur aus dem VEB
Büromaschinenwerk Optima den kühnen Plan gefasst hat, für sich und seine
Familie ein Haus zu bauen. Nehmen wir weiter an, dass er alle vorherigen
Formalitäten, wie Grundstückskauf und Baugenehmigung erfolgreich erledigen
konnte – was als solches schon schwierig genug war. Auch der Baukredit war
bewilligt worden, der Ingenieur konnte also über eine festgelegte und nicht
weiter verhandelbare Summe Geldes Verfügung, um sein Eigenheim hochzuziehen.
Was fehlte, waren die „Bilanzen“. Sprich: Das Material, das unser junge
Ingenieur verbauen wollte, musste irgendwo vorhanden und noch nicht für andere
Zwecke verplant gewesen sein. Und zu guter Letzt galt es, einen Betrieb zu
finden, der das gesuchte Material nicht nur hatte, sondern auch für diesen
Zweck verkaufen wollte. Hier halfen die „Bezugsscheine“.
Unser junger Ingenieur hatte Glück, denn er hatte etwas,
das andere gut gebrauchen konnten: Bezugsscheine für Schreibmaschinen. Die
hatte ihm sein Betrieb als kleine Starthilfe gegeben. Sie waren keine geldwerte
Leistung im Sinne einer Prämie, aber sie verhinderten, dass der junge Kollege
in die Versuchung kam, illegal etwas aus seinem volkseigenen Betrieb
„herauszuholen“. Die Bezugsscheine berechtigten nämlich deren Inhaber, sich
eine oder mehrere Schreibmaschinen von der Optima liefern zu lassen. „Bilanzen“
eben, und gegen Geld versteht sich.
Und so hatten am Ende alle, was sie brauchten: Unser Ingenieur
bekam sein Baumaterial – natürlich gegen Bezahlung – und der liefernde Betrieb konnte sich moderne
Schreibmaschinen kaufen. Auch wenn das heute nicht in den Horizont eines frisch
gebackenen BWLers passt: Es war so und es war sogar ziemlich legal.
...
Logiert wurde im Erfurter Hof
Dass die „führenden Genossen“ gern ihrer
Jagdleidenschaft frönten, ist hinlänglich bekannt. Auch, dass Honecker seine
„Männerfreundschaft“ mit Breshnew und seinen Aufstieg an die Spitze von Partei
und Staat genau diesem nicht eben proletarischen Hobby verdankt. Deswegen
wundert es heute auch niemanden mehr, dass die DDR zur Imagepflege Staatsjagden
veranstaltete. Das Diplomatische Corps und andere besonders Auserwählte waren
dazu eingeladen, volkseigenen Hasen, Wildschweinen, Rehen und günstigstenfalls
auch Hirschen den Garaus zu machen. Dass diese Tiere vorher irgendwo eingefangen
und eigens in den entsprechenden Revieren ausgesetzt worden sein sollen, ist
wohl mehr als nur ein Gerücht.
Viele der Staatsjagden
fanden in der Gegend um Erfurt statt. Die Jagdteilnehmer wurden entweder mit
Bussen oder Sonderzügen nach Erfurt gebracht. Die ganz besonderen Gäste und die
mitjagenden Mitglieder der Partei- und Staatsführung kamen per Flugzeug und
landeten in Bindersleben. Logiert wurde im ersten Haus am Platze, dem
Interhotel Erfurter Hof.
Die Stasi kam mit der Straßenbahn
Der Weg vom Flughafen
dorthin führte über die Protokollstrecke entlang der Binderslebener Landstraße
am Hauptfriedhof vorbei in Richtung Innenstadt. Die Straße war dann gesäumt mit
„Jubel-Persern“, von denen ein Großteil dienstlich abkommandiert war – um
sicherzustellen, dass auch nichts schiefging und es zu keinen unliebsamen
spontanen Meinungsäußerungen des normalen Volkes kam. Damals wurden noch keine
Gullydeckel zugeschweißt, das erledigte die Stasi durch persönliche Präsenz.
Die auffällig
unauffälligen Hüter der Staatsmacht wurden nicht mit Autos zum Ort des
Geschehens gekarrt, sondern kamen „mit der Bimmel“ – und mussten genau damit
auch wieder zurück.
Michael Bitterlich,
damals – irgendwann in den 80ern – nebenberuflicher Straßenbahnfahrer, erinnert
sich, dass er an solch einem Tag auf der Linie 5 eingesetzt war und am
Hauptfriedhof auf das Ende der Staatsprozession warten musste. Draußen war es
bitterkalt, aber Bitterlich saß in seinem beheizten Führerhäuschen. Die Türen
zum Fahrgastraum ließ er offen, schließlich wusste er, wer die nächsten
Fahrgäste auf seiner Tour in die Stadt sein würden. Und so kam es, dass die
Stasileute auch auf dem Heimweg vom Einsatz ihre kalten Füße nicht loswurden.
...
Spuren aus der
Vergangenheit
Zum Schluss unserer kleinen Zeitreise wollen wir noch
einmal einen Moment inne halten und darauf schauen, was vom längst Verflossenen
übrig geblieben ist. Wo finden sich bleibende Spuren von Dingen die längst
Geschichte sind?
Nehmen wir die Schlachthofstraße. Einen Schlachthof hat
Erfurt schon seit Ende der 1990er-Jahre nicht mehr. Wer weiß aber noch, dass
der Straßenname sich auf den ursprünglichen Standort des städtischen
Schlachthofs bezieht. Der befand sich nämlich auf dem Areal zwischen heutiger
Stauffenbergallee und Thälmannstraße, das danach von der Stadtwirtschaft
genutzt wurde. Gleich gegenüber am Steinplatz erinnerte noch Jahre später eine
Eckkneipe namens „Alter Schlachthof“ an die frühere Nachbarschaft. Die
Geschichte von den Fleischklopsen ohne Fleisch haben Sie ja schon weiter vorn
gelesen.
Nur der Name
blieb vom „Kaffeetrichter“
Wenn sich jüngere Erfurter oder Zugereiste bei der
Schlachthofstraße noch vorstellen können, woher der Name kommt, dann fällt dies
beim „Kaffeetrichter“ schon schwerer. Die viel befahrene Kreuzung von B4 und B7
am Südrand der Innenstadt lässt mit nichts mehr erahnen, woher sie Ihren Namen
hat.
Der stammt von einem seinerzeit sehr bekannten
Kaffeehaus, dem „Café Trichter“. Seinen guten Ruf hatte das Haus neben dem
einprägsamen Namen nicht zuletzt seiner außergewöhnlichen Architektur zu
verdanken. Auf den Terrassen ließ es sich gut sitzen, deshalb beschlossen hier
viele Familien ihre Steigerwanderung bei einer Tasse Kaffee und einem Stück
Kuchen. Aber schon in den 1980er-Jahren hatte der Verkehr an der Kreuzung so
zugenommen, dass die Gemütlichkeit abhandenkam. Das Haus verfiel und wurde
Mitte der 1990er-Jahre abgerissen. Geblieben ist einzig der Name der Kreuzung
und der Straßenbahnhaltestellen.
Es gäbe sicher noch vieles zu erwähnen. Von „Mutter
Blume“ zum Beispiel oder vom Busfahrer Blanke zum Beispiel. Von den Erfurter
Fußballgrößen wäre zu reden, die in den 50er-Jahren gleich zwei DDR-Meistertitel
errangen. Viel mehr müsste man über die Erfurter Kneipen erzählen und über die
großen und kleinen Dramen, die sich dort ereignet haben. Man könnte
Bratwurst-Barthel erwähnen und den Wagen mit den Fischbrötchen am Nordbahnhof. Auch
der „Flunsch“ und die „Schlittschuh-Leiern“, die man dort im Winter brauchte,
wären ein paar Worte wert. Das sei jetzt aber Ihnen überlasssen, liebe
Leserinnen und Leser. Oder einem weiteren „Wiss’de noch…“-Buch.
Die Zwillinge
„ge“ und „no“
Schlagen wir ganz am Ende noch einen Bogen zurück zum
Anfang, zum aussterbenden Erfurt’sch. Dazu gehören auch die folgenden Zwillinge.
Wo das Eine ist, das ist das Andere nicht weit. Wenn ein Erfurter „ge“ sagt,
dann wird der andere ganz schnell mit „no“ antworten. Für die des Erfurt‘schen
Unkundigen: Die Vokale bei „ge“ und „no“ werden kurz und vor allem offen
ausgesprochen.
Das „ge“ ist ein nach Bestätigung heischendes
Satzanhängsel, das sich am ehesten mit „stimmt’s?“ übersetzen lässt. Das „no“
ist die erhoffte Antwort „ja“.
Mit diesem Wissen und nach der Lektüre dieses kleinen
Buches können Sie jetzt ausgiebig darüber „knetschn“, wie‘s früher in Erfurt
war, ge?!
No! A’ar vergiss
‘n Biddl nich.
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